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ZERTRÜMMERTE ERINNERUNG AM SEMMERING

ZERTRÜMMERTE ERINNERUNG AM SEMMERING

Band 1: Eine österreichisch-jüdische Geschichte

Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, ISBN 978-3-903522-22-0


Zertrümmerte Erinnerung am Semmering


Viele Jahre lang hat der Autor, Musiker und Kabarettist Richard Weihs am Buch über die Geschichte seiner jüdischen Familie gearbeitet. Diese erstreckt sich über vier Generationen und zeichnet ein bewegtes und bewegendes Bild von mehr als hundert Jahren österreichischer Zeitgeschichte. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Umgang mit der jüdischen Bevölkerung – daher auch der Untertitel „Eine österreichisch-jüdische Geschichte“.


Eine wichtige Figur ist die Großtante des Autors, Henriette Weiss, die in Breitenstein am Semmering ein berühmtes Sanatorium betrieb. Als Initiatorin und Leiterin mehrerer anderer Heilstätten und sozialer Einrichtungen war sie eine bekannte Persönlichkeit der I. Republik. Der Autor ist bei seinen Recherchen in verschiedenen Archiven auf viele bisher unerschlossene Quellen gestoßen und hat die bizarren Vorgänge um die Enteignung und lange verhinderte Restitution des Sanatoriums umfassend dokumentiert.


Die Mitglieder der Familie wurden von den Nationalsozialisten vertrieben oder ermordet. Darunter befanden sich Prominente wie Leon Kellner, engster Mitstreiter und Nachlassverwalter von Theodor Herzl. Seine Tochter Dora Sophie Kellner war mit dem Philosophen Walter Benjamin verheiratet, der mit ihr öfters zu Gast im Sanatorium am Semmering war. Dort weilten auch immer wieder bedeutende Protagonisten des Roten Wien: Karl Seitz war über viele Jahre Stammgast, weitere Gäste waren Otto Bauer, Friedrich Adler und Otto Glöckel.


Der Vater des Autors war eines der wenigen Familienmitglieder, die nach dem Ende der NS-Schreckensherrschaft nach Österreich zurückkehrten. Dies musste er bitter büßen: Er ging durch ein Komplott der ehemaligen Ariseure seiner Fabrik verlustig und war jahrelang inhaftiert. Außerdem kassierte der österreichische Staat entschädigungslos seine wertvollen Erdöl-Schürflizenzen.


Im letzten Teil des Buches schildert Richard Weihs den steinigen Weg zur Restaurierung der kleinen Villa beim Breitensteiner Sanatorium, dessen riesige Ruine er auf eigene Kosten abreissen lassen musste. Es gelang ihm aber die Errichtung einer Gedenkstätte durchzusetzen und auch die Umbenennung einer nach einem NS-Verbrecher benannten Straße am Semmering.


Seine Recherchen über die Enteignung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen BürgerInnen des Semmerings waren so umfangreich, dass sie nächstes Jahr in einem zweiten Band „Die kuriose Geschichte eines Kurtortes“ veröffentlicht werden. Bereits heuer konnte Weihs zwei Kapitel und zahlreiche Informationen für das von Drin. Danielle Spera herausgegebene Buch „Stammgäste – Jüdinnen und Juden am Semmering“ beitragen.

Leseprobe „Zertrümmerte Erinnerung am Semmering“


Zuerst einmal ging ich daran, die völlig zugewachsene und überwucherte Ruine des Hauses zu roden. Mit Handsäge und Axt schnitt und hackte ich Bäume und Büsche weg und grub dann mit Krampen und Schaufel Baumstümpfe und Wurzelstöcke aus. Eine sehr ermüdende Tätigkeit – aber ich war hochmotiviert und fest entschlossen.


Auch im Haus selbst gab es einiges zu roden – auf dem Dach wuchsen ja schon Bäume. So schnitt ich, auf einem bröckeligen Ziegelbogen balancierend, mit einem Fuchsschwanz eine fünf Meter hohe Birke vom Dach, deren Wurzeln bis in den Keller reichten. Und eine neben dem Haus wachsende Kastanie hatte eine dicke Wurzel über die Veranda ins angrenzende Zimmer wachsen lassen, wo sie sich in der kniehohen Schuttschicht schon weit verzweigt hatte.


Hohe Schutthaufen bedeckten den Boden im gesamten Erdgeschoß. Nicht nur der Wandverputz war teilweise abgebröckelt, sondern auch die meisten Dippelbaum-Zwischendecken waren bereits eingestürzt und die früher darauf befindliche Schüttung häufte sich nun in den unteren Räumen. Vom durch das stark beschädigte Dach eingedrungenen Regenwasser war der Schutt feucht und schwer, was das Schaufeln natürlich nicht gerade erleichterte.


Nichtsdestotrotz arbeitete ich mich langsam von einem Zimmer ins nächste vor und rollte mit der Scheibtruhe unzählige Fuhren Schutt zur riesigen Ruine des benachbarten Sanatoriums – dort kam es auf ein paar zusätzliche Kubikmeter auch nicht mehr an. Die schweren Dippelbäume der abgestürzten Decken grub ich aus und wuchtete sie keuchend durch die leeren Fensteröffnungen ins Freie. Und ich entdeckte, dass bei einer Zimmerdecke Eisenbahnschienen als Träger verwendet worden waren.

Eine besondere Herausforderung war das Abschlagen des bröckeligen Verputzes der Kellergewölbe. Zwar trug ich eine Schutzbrille und eine Staubmaske, die mich bei der staubigen Arbeit aber nur zum Teil schützten. Da ich mit den Händen über Kopf arbeitete, rieselten mir die sandigen Verputzreste in meine Ärmel, arbeiteten sich dann langsam nach unten und fanden schließlich durch die Hosenbeine wieder den Weg ins Freie.


Beim Herausreißen der morschen Fensterstöcke mit ihren ingeniös in den Seitenteilen integrierten ausklappbaren Holzjalousien stieß ich auf Informationen über deren Herkunft: An den eingemauert gewesenen Innenflächen befanden sich noch gut erhaltene Aufkleber der k. k. priv. Südbahngesellschaft. Diese bezeugten, dass die Fensterstöcke im Jahr 1908 mit der Bahn von Mödling nach Breitenstein transportiert worden waren.


Für Abwechslung bei der Arbeit sorgten Funde aus jener Zeit, in der meine Familie das Haus noch als Feriendomizil benutzen konnte – ich fühlte mich manchmal als familienhistorischer Archäologe. Die Hausschlapfen meines Vaters grub ich ebenso aus wie den Badeanzug meiner Mutter, alte Briefe und längst vergessene Spielsachen kamen zum Vorschein und gelegentlich ein besonders kurioser Fund.

Zum Beispiel die Luftpostkarte einer Mrs. Newman, wohnhaft in 372 Central Park West, New York City, aus dem Jahr 1969, adressiert an das „Sanatorium Breitenstein Semmering“. Sie bekundete darin ihre Absicht das Sanatorium zu besuchen, erkundigte sich detailliert nach verschiedenen Behandlungsmethoden und ersuchte abschließend um Zusendung eines Prospekts.


Ich stieß auch auf die Träger meiner alten Lederhose, verziert mit dem Haupt eines röhrenden Hirsches, garniert mit Eichenlaub. Diese Hose hatte ich als Kind in Linz bekommen, nagelneu damals, aus weichem hellbraunem Leder. Mein Vater meinte aber, sie würde erst so richtig zünftig sein, wenn sie einmal dunkelbraun und speckig geworden wäre. Um diesen Vorgang zu beschleunigen, wälzte ich mich mit der nagelneuen Hose auf dem Misthaufen in der hintersten Ecke des Gartens – was meine Mutter mit Entsetzen quittierte.


Eine besondere Überraschung erlebte ich, als ich den alten gemauerten Herd der im Keller gelegenen Waschküche abbrach: Ich fand darin zusammengeknülltes vergilbtes Zeitungspapier und verwitterte Fichtenzapfen. Und ich erinnerte mich: Wir Kinder hatten diese in den Herd gestopft, um zum Spaß Feuer zu machen, was aber von meinem Vater energisch unterbunden worden war. Und so waren sie jahrzehntelang im Herd verblieben.


Ich machte noch einen weiteren Fund im Keller: In einem Schutthaufen fand ich einen riesigen Schöpflöffel. Und auch daran kehrte langsam die Erinnerung zurück: Diesen Schöpfer hatte ich schon einmal als Jugendlicher in der Kellerküche des Sanatoriums aus dem Schutt ausgegraben und im Keller der Villa verstaut. Später las ich in der Festschrift von Tante Jetty vom Kauf eines Spezialgeräts für ihre Mastkuren: „Ich hatte für diesen Zweck Extra-Riesenlöffel angeschafft“. Dieser Schöpflöffel hängt jetzt seit mehr als zwanzig Jahren in meiner Küche – auch wenn ich ihn wegen seiner Größe nie verwendet habe.

Auch im Wohnzimmer wurde ich an frühere Zeiten erinnert: Als Jugendlicher hatte ich einen Hohlhaken tief in einen Ziegel geschlagen, um über dem damals dort befindlichen Waschtisch einen Spiegel aufzuhängen. Spiegel und Waschtisch waren längst dahin, aber der Haken hatte eisern die Stellung gehalten. Er überstand auch sämtliche Renovierungsarbeiten und heute hängt daran ein Bild mit einer idyllischen Schlosspark-Szene.


Einige der Arbeiten am Haus waren nicht ungefährlich: So kletterte ich einen Tag lang auf dem Dach herum, um wenigstens die gröbsten Löcher provisorisch zu flicken. Ich hatte damals nicht einmal ein Handy, mit dem ich bei einem Unfall Hilfe herbeirufen hätte können. Ich ging aber bei sämtlichen Arbeiten sehr vorsichtig vor und trug zwar jede Menge kleinerer Verletzungen davon, blieb aber im Großen und Ganzen heil.

Bei einem Vorfall hätte mir allerdings keine Vorsicht der Welt genützt – da hatte ich Riesenglück. Ich war gerade in meiner jetzigen Küche am Schutt schaufeln, als es plötzlich einen Riesenkrach machte. In Sekundenschnelle wurde das gesamte Erdgeschoß von einer dichten weißen Staubwolke vernebelt. Zuerst dachte ich, dass zwei schon seit langem schief herunterhängende Dippelbäume im benachbarten Wohnzimmer abgestürzt wären.


Es stellte sich aber heraus, dass die gesamte Decke unserer ehemaligen Küche eingestürzt war. Durch einen vorher niedergegangenen Regen hatte sich die Schüttung auf der Decke mit Wasser vollgesaugt und die morschen Dippelbäume waren unter dem Gewicht gebrochen. Hätte ich mich zu diesem Zeitpunkt in dem Zimmer aufgehalten, wäre das Projekt „Renovierung“ schnell und endgültig beendet gewesen.

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