Wilde
Worte
Franz Hütterer, Michaela Opferkuh und Richard Weihs
Über unbändige Literatur:
Wenn Worte wildern
Florian Müller im AUGUSTIN
Sie sind der Tod jeder steril-literarischen Lesung: Wenn die Wilden Worte jeden zweiten Montag im Monat im Kulturzentrum Siebenstern gastieren, dann wird der Zwischenruf kultiviert, lesen BesucherInnen in der Freien Wildbahn und antworten die GastgeberInnen mit ihren Wunschgedichten.
Die Gäste Werner Brix und Gregor Seberg gaben bei den Wilden Worten im Mai 2005 das Motto „Wir lesen alles“ aus. Sie sangen das „Pflichtlied“ von Franz Morak und rezitierten eine Speisekarte vom Akakiko. Das passt durchaus gut in das Gesamtkonzept der Wilden Worte. Auch wenn sie gleich zu Beginn ihres Gastbeitrages durch das Publikum gehen und selbiges nach literarischen Texten perlustrieren, egal ob Zigarettenpackerl-Aufschrift oder sms von der Freundin, dann hat das auch viel mit der Philosophie der Wilden Worte zu tun. Denn Kunst findet nicht nur auf der Bühne statt. Und das Wort „Belletristik“ leitet sich in diesem Fall vom widerständigen Bellen ab.
Es war einmal und ist noch immer
Was vor nun über acht Jahren zunächst im Café Bajazzo und später im Café Tachles mit Martin Auer, Christina Zurbrügg, Richard Weihs und Franz Hütterer begann, findet nun schon seit ca. vier Jahren regelmäßig im Café Siebenstern statt, seit zwei Jahren in der Besetzung Michaela Opferkuh, Franz Hütterer und Richard Weihs. Ein überfinanziertes Projekt waren die Wilden Worte nie. Am Anfang ging der Hut herum, und auch wenn die Veranstaltung mittlerweile vom Bundeskanzleramt – Kunst, Wien Kultur und dem Bezirk Neubau gefördert wird, reicht das Budget eines Abends nach wie vor nicht an den Preis einer durchschnittlichen Nachspeise des Finanzministers heran.
Verwunschene Gedichte
Ein fixer Bestandteil jedes Abends sind die so genannten „Wunschgedichte“, die jeweils vor der Pause von den drei GastgeberInnen vorgetragen werde. Diese Wunschgedichte entstehen auf Basis von beim jeweils vorigen Mal abgegebenen Zetteln, in denen ein Gedicht bestellt wird, das ein gewisses Thema hat, mit gewissen Worten beginnt oder gewisse Worte enthält. Gerade diese Wunschgedichte verkörpern auch das Wilde-Worte-Prinzip der Spontanität: Sie werden meist kurz vor Beginn des Abends abgefasst und natürlich auch vom Publikum ergänzt und kommentiert. Gerade in Anbetracht der großen literarischen Produktivität, die sich alleine im Bereich der Wunschgedichte zeigt, ist es bemerkenswert, dass es von den Wilden Worten keine einzige Publikation gibt. Aber auch das ist kein Zufall: Literatur entsteht in einem unwiederbringlichen Moment, den ein Druckwerk nicht wiedergeben kann. Die Performance ist gefragt.
Über Wilderer
Der Interaktivität nicht genug, gibt es nach der Pause auch immer die freie Wildbahn. Sie lädt explizit alle Anwesenden ein, selbst Literatur vorzutragen. So kommt hier manches Faszinierende und natürlich auch einfach Schlechtes zum Vortrag. Aber alles hat seinen Platz und seine Richtigkeit. Und alles wird begeistert aufgenommen, weil es eben dazugehört. Aus diesem Grund haben hier schon viele SchubladenpoetInnen erstmals ihre Werke vorgetragen oder manche sogar deswegen zum Schreiben begonnen. Hier würden sogar Francisco Ferrero Campos’ schwülstige Liebesgedichte an seine Frau Benita mit gehörigem Respekt belächelt werden. Denn sie sind unfreiwillig komisch, aber eben komisch.
Der Wanderpokal der rostigen Schraube
Ein Stammgast in der Freien Wildbahn ist auch Fritz Babe. Er kennt die Wilden Worte schon seit ihrer Zeit im Café Tachles. Fritz hat die Freie Wildbahn eigentlich erst inspiriert, selber zu schreiben. Mittlerweile sind es geniale Gedichte und Kurztexte, die er vorträgt, und seine Performance lässt auch nicht zu wünschen übrig. „Wenn ich ihn hier sehe, ist er ein anderer Mensch“, bestätigte eine Bekannte von ihm. Und so war Fritz auch sicher dieses Mal einer der Höhepunkte der Wilden Worte, nachdem er nämlich den Wanderpokal der rostigen Schraube für die TeilnehmerInnen der freien Wildbahn kreierte, und ihn sich gleich anschließend selbst verlieh.
Ein Literaturereignis der merkwürdigen Sorte
Seit elf Jahren gibt es in Wien eine literarische Veranstaltungsreihe, die sich von herkömmlichen Lesungen stark unterscheidet. Initiiert wurde sie im Frühjahr '96 von Martin Auer, mit dem sich Christina Zurbrügg, Franz Hütterer und Richard Weihs zur Gruppe "Dichtungsring" formierten. Ein Jahr lang fanden die Veranstaltungen im Café Bajazzo im neunten Bezirk statt. Dann gelang uns der Sprung über den Donaukanal in den zweiten, wo im Keller des Café Tachles drei Jahre lang "Wilde Worte King Size" zu hören waren. Seit Oktober 2000 finden die Lesungen nun im Kulturzentrum Siebenstern im siebten Wiener Gemeindebezirk statt.
Warum Wilde Worte? Nun, wir waren einfach angeödet von jener Art Lesungen, wie sie im regulären Literaturbetrieb häufig stattfinden: In der unterkühlten Atmosphäre höheren Bildungsbürgertums wartet ein eisig schweigendes Publikum auf das Erscheinen des erlauchten Kulturträgers. Dieser begibt sich gemessenen Schrittes zum Lesetischchen, nippt ein wenig vom bereitgestellten Mineralwasser, verkrampft sich und beginnt sodann lispelnd aus seinen hehren Werken vorzutragen. Und die steifen Zuhörer verharren in erstarrter Ergriffenheit, aus der sie sich womöglich nie mehr lösen werden ...
Na gut, meistens ist es ja nicht ganz so schlimm - aber wir meinen: Immer noch schlimm genug! Und wenn man in Amerika erlebt hat, wie lebendig und turbulent dort so genannte "Poetry Slams" vor sich gehen, dann weiß man, dass es anders auch geht. Wie funktionieren nun die "Wilden Worte"? Zuerst einmal steht jeder Abend unter einem bestimmten Thema. Hier nur eine kleine Auswahl: "Undichte Dichtungen", "Unter Geiern", "Magisches Heil", "Organisiertes Versprechen", "Strategien gegen das Bibbern" oder schlicht und einfach "Mein Bier“.
Zweitens haben wir an jedem Abend einen Gast, der zum Thema passt, bzw. umgekehrt. Weiters werden ganz spezielle Service-Leistungen geboten: „Wilde Worte interaktiv: Das Wunschgedicht“. Sie wünschen - wir dichten! Es werden handliche Formulare ausgeteilt, in welchen die Besucher Thema, Anfang oder Inhalt des von ihnen begehrten Gedichtes eintragen können. Und wir bemühen uns dann, die Aufträge bis zur nächsten Veranstaltung zu erfüllen. Dies fördert nicht nur die Kundenbindung, sondern wirkt oft auch sehr inspirierend auf die geforderten Dichter.
Und dann gibt es auch noch die "Freie Wildbahn", auf Neudeutsch: "Open Stage". Sie gibt dem Zuhörer Gelegenheit, den Spieß umzudrehen und zum Vortragenden zu mutieren: Da rezitiert der Weinkenner Fritz Babe aberwitzige Spontangedichte, unsere alte Stammgästin Dora Schimanko liest eine Erzählung über ihre jüdische Kindheit in der Leopoldstadt oder die ehemalige Mühl-Kommunardin Toni Elisabeth improvisiert anschaulich Szenen aus dem Beziehungsalltag.
Vom Gründungsteam sind noch Franz Hütterer und Richard Weihs an Bord, seit Herbst 2001 verstärkt durch Michaela Opferkuh. Die "Wilden Worte" finden (außer im Juli und August) monatlich statt, und zwar jeweils am zweiten Montag.
Publiziert im Jahr 2002
Franz Hütterer, Michaela Opferkuh, Richard Weihs
Foto: Gerhard Maly